Dies Domini – 21. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C
Der moderne Mensch des Westens lebt in eng getakteten Zeiten. Zwischen Vergangenheit und Zukunft liegt das schmale Zeitfenster der Gegenwart, das sich im Moment des Ergreifens schon verflüchtigt hat. Im Streben, auch die Zeit seiner Herrschaft zu unterwerfen, öffnen und schließen die heutigen Zeitgenossinnen und -genossen mit ihren Smartphones Zeitfenster, rahmen Berufliches und Privates in diese Lücken hinein, kommunizieren via WhatsApp in Gruppen zeitgleich mit Menschen, die sie nicht mehr sehen, planen mit Trello und Meistertask effizient ihre Aufgaben und organisieren den Rest digital mit Slack oder anderen elektronischen Helferleinen. Das Leben ist kurz, die Zeit ist knapp – und bevor sich das Zeitfenster für das familiäre Ponyreiten öffnet und pünktlich wieder schließt ist noch viel zu tun, zu telefonieren, zu planen, zu organisieren und, und, und … Die Zeitfenster sind halt eng – da muss man sich schon einmal am Riemen reißen!
Es ist schon erstaunlich, dass gegenwärtig immer wieder über die Sprache der Kirche gejammert wird. Angeblich müsse sie wieder eine neue Sprache finden, um die Menschen von heute zu erreichen. Bei näherer Betrachtung aber eröffnet sich eine interessante Erkenntnis. Nicht nur, dass alt hergebrachte theologische Begriffe wie „Sünde“, „Gnade“ oder „Erlösung“ gar nicht so verstaubt sind, wie sie scheinen; wer kennt nicht die Hoffnung, nach tatvollzogener Verkehrssünde einem Polizisten zu begegnen, der Gnade vor Recht ergehen lässt, so dass man erlöst und befreit davonfahren kann. Auch die Sprache der Bibel ist der gegenwärtigen Erfahrung oft näher, als es auf den ersten Blick erscheint. Gut: Die Bildwelten mögen sich verändert haben. Schafe und Hirten sieht man in den urbanen Kulturen der Gegenwart in der Tat eher selten – obschon auch das nicht unmöglich ist; Freizeitleiterinnen und -leiter, die auf die ihnen Anvertrauten aber Acht geben müssen wie ein guter Hirte auf seine Schafe wissen wiederum genau, wie es sich anfühlt, wenn ein Schützling verloren gegangen ist. Die technischen Möglichkeiten mögen sich über die Jahrhunderte entwickelt haben, die Mode ist immer wieder eine andere – der Mensch von heute aber teilt offenkundig in der Substanz die gleichen oder ähnliche Erfahrungen wie die Menschen vor 2.000 und mehr Jahren. Genau das ist ja der Grund, warum Mythen und Märchen zeitlos sind. Genau deshalb bleibt auch das Wort Gottes aktuell, das wie Mythen und Märchen menschliche Urerfahrungen transportiert.
Zu einer dieser Urerfahrungen gehört das Wissen darum, dass es Zeiten der Entscheidung gibt. Die Zeit kann reifen, muss es bisweilen sogar, bis die Entscheidung reif ist. Keinen Tag zu früh, aber auch keinen Tag zu spät darf es sein. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, muss die Entscheidung getroffen werden. Dann öffnen sich für einen kurzen Augenblick Fenster in der Zeit, die entscheidend für den weiteren Verlauf sind. Wer diese Gelegenheit nicht beim Schopfe packt, muss warten, bis sich die nächste Gelegenheit bietet – wenn sie sich denn bietet. Manch einer, der zu spät kommt, wird nämlich auch vom Leben bestraft.
Nun ist die Rede von Zeitfenstern freilich eine eher moderne Erfindung, die sich den persönlichen Informationsmanagern digitaler Kommunikationsprodukte. Im antiken Kontext kannte die Zeit noch keine engen Taktungen. Sonne und Mond bestimmten den Lauf der Tage. In gewisser Weise lief die Zeit daher langsamer. Und doch wusste man um diese Augenblicke der Entscheidung, jene günstigen Gelegenheiten, in denen es um Alles oder Nichts gehen konnte. Καιρός (kairós) nannten die Griechen diese Momente, die sich dem Gott Χρόνος (Chrónos) verdankten, dem Gott der Zeit. Chronos wird mit einem langen Schopf am Vorderkopf dargestellt, während der Hinterkopf kahl ist. Man kann ihn nur von vorne bei sich bietender Gelegenheit packen; ist der Augenblick vorbei, ist nichts mehr zum Greifen da.
Auch das Evangelium vom 21. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C spricht von einer Zeit der Entscheidung:
„In jener Zeit zog Jesus auf seinem Weg nach Jerusalem von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf und lehrte. Da fragte ihn einer: Herr, sind es nur wenige, die gerettet werden? Er sagte zu ihnen: Bemüht euch mit allen Kräften, durch die enge Tür zu gelangen; denn viele, sage ich euch, werden versuchen hineinzukommen, aber es wird ihnen nicht gelingen. Wenn der Herr des Hauses aufsteht und die Tür verschließt und ihr draußen steht, an die Tür klopft und ruft: Herr, mach uns auf!, dann wird er euch antworten: Ich weiß nicht, woher ihr seid.“ Lukas 13,22-25
Die Rede Jesu lässt aufhorchen. Bedeutet die Rede von der engen Tür tatsächlich, dass nur wenige die Chance haben, gerettet zu werden? Wer kann da noch hoffen?
Offenkundig geht es bei den Wenigen nicht um eine zahlenmäßige Begrenzung an sich. Jesus selbst spricht ja davon, dass man sich bemühen soll, um durch die enge Tür zu gelangen. Wer sich dieser Mühe unterzieht, wird die Tür offen finden. Dafür spricht auch, dass wenige Verse später das Gleichnis vom Festmahl zu finden ist, das in der lukanischen Version (Lukas 14,15-24) im Vergleich zu matthäischen Version, dem Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl (Matthäus 22,1-14) offener ist. Bei Matthäus steht freilich das Moment der Entscheidung deutlicher im Fokus, wenn der eine, der – obschon unvorbereitet eingeladen und in den Festsaal geführt – ohne Hochzeitgewand vorgefunden, die Frage nicht beantworten kann, warum ihm jede Festlichkeit fehlt, und er daraufhin dorthin geworfen wird, wo Heulen und Zähneknirschen sind. Eben jene Perspektive eröffnet Jesus im Evangelium vom 21. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C auch jenen, die nicht durch die enge zur Tür zu gehen im Stande sind:
„Dann werdet ihr anfangen zu sagen: Wir haben doch in deinem Beisein gegessen und getrunken und du hast auf unseren Straßen gelehrt. Er aber wird euch erwidern: Ich weiß nicht, woher ihr seid. Weg von mir, ihr habt alle Unrecht getan! Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein, wenn ihr seht, dass Abraham, Isaak und Jakob und alle Propheten im Reich Gottes sind, ihr selbst aber ausgeschlossen seid. Und sie werden von Osten und Westen und von Norden und Süden kommen und im Reich Gottes zu Tisch sitzen. Und siehe, da sind Letzte, die werden Erste sein, und da sind Erste, die werden Letzte sein.“ Lukas 13,26-30
Da aber kommt etwas Neues in den Blick, dass die Hoffnung nährt, dass es nicht um einen zahlenmäßig kleinen Rest geht, der gerettet wird. Die, die vom Osten und Westen, vom Norden und Süden kommen, sind viele, die am Tisch im Reiche Gottes sitzen werden – und genau diese Intention wird im lukanischen Gleichnis vom Festmahl erzählerisch vertieft. Es können und werden also doch viele gerettet werden, ja: der Wille Gottes richtet sich mit Sicherheit sogar darauf, dass alle gerettet werden; aber werden sich auch alle retten lassen wollen?
Das hängt davon ab, ob sie in der Lage sind, die sich bietende Gelegenheit beim Schopfe zu packen. Als Jesus nach der anfänglichen Euphorie des Anfangs im galiläischen Frühling die Erfahrung machte, dass nach der ersten Befriedigung der Lust an der Sensation viele wieder in ihren Alltag gingen, entschließt er sich, nach Jerusalem aufzubrechen. Lukas berichtet davon im 9. Kapitel seines Evangeliums:
„Es geschah aber: Als sich die Tage erfüllten, dass er hinweggenommen werden sollte, fasste Jesus den festen Entschluss, nach Jerusalem zu gehen.“ Lukas 9,51
Die Zeit der Entscheidung beginnt. Der Weg nach Jerusalem selbst wird zum Weg der Entscheidung, die in Kreuzestod und Auferstehung ihren Höhepunkt und ihre Vollendung finden wird. Auf dem Weg nach Jerusalem aber ruft Jesus immer wieder in die Entscheidung. Er weiß, dass er die Entscheidung will. Genau deshalb kann man sich nicht nicht zu ihm verhalten. Es gibt jetzt nur Zustimmung oder Ablehnung. Die Unentschiedenen, die Lauen, die Trägen sind das eigentliche Problem. Sie sind es, denen jeder Antrieb und jedes Bemühen fehlt. Die, die Jesus ablehnen, wissen wenigsten, was sie tun – hoffentlich … Die Unbemühten hingegen sind einfach nur träge. Ihnen reicht es, zu essen und zu trinken; ja, vielleicht ergötzen sie sich sogar an den Auftritten des Rabbis aus Galiläa. Eigentlich aber ist er ihnen egal. Wenn es aber ans Eingemachte geht, wenn es kein Entrinnen vor der Entscheidung gibt, wenn sich jenes schmale Zeitfenster der Entscheidung öffnet, dann werden sie zu spät kommen. Die Tür wird dann zu sein.
Die Rede Jesu rüttelt auch über die Jahrhunderte hinweg noch auf – zumindest hat sie das Potential dazu. Wer sich heute nicht von ihr aufrütteln lässt, hat die Gelegenheit schon wieder verpasst. Wer weiß, ob – und wenn: wann sich die enge Tür wieder öffnet. Wird dann ein Zeitfenster frei sein, das Richtige zu tun?
Es reicht jedenfalls nicht, nur fromm „Herr! Herr!“ zu rufen; man muss seinen Willen schon tun – darauf weist Jesus jedenfalls bereits im galiläischen Frühling hin (vgl. Lukas 6,46). Tatsächlich hilft es gerade auch heute nicht mehr, wenn die Kirche nur „Herr! Herr!“ ruft, wie sie es aus Tradition die Jahrhunderte hindurch immer getan hat. Jetzt muss der Wille Jesu wieder neu getan werden. Jetzt aber ist unübersehbar wieder eine Zeit der Entscheidung. In diesen Zeiten muss sich etwas ändern – sonst wären sie keine Zeiten der Entscheidung. Was muss jetzt getan werden, um den Namen Jesu hörbar vor allen Völkern zu verkünden ohne dass die Völker ihre Ohren verschließen. Was muss geändert werden, um den entscheidenden Blick auf Jesu wieder frei zu machen. Zuviel versperrt diesen Blick in diesen Tagen der Entscheidung. Es wird Zeit, diese Dinge endgültig aus dem Weg zu räumen, bevor sich das Zeitfenster schließt. Wenn es zu ist, wird wieder Heulen und Zähneknirschen sein. Man hört die ersten schon mit den Zähnen klappern. Es ist nicht mehr viel Zeit: Lasst den Ballast fahren und macht euch frei für das lebendige Wort Gottes … noch füllt ihr die Hände mit zu viel Althergebrachtem, in dem die Menschen Gott zu finden nicht mehr vermögen. Lasst es fahren und gebt Gott die Gelegenheit, wieder zu erscheinen, damit „jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr zur Ehre Gottes, des Vaters“ (Philipper 2,11).
„Darum macht die erschlafften Hände und die wankenden Knie wieder stark, schafft ebene Wege für eure Füße, damit die lahmen Glieder nicht ausgerenkt, sondern vielmehr geheilt werden!“ Hebräer 12,12f
Noch ist Zeit … aber nicht mehr lang …
Dr. Werner Kleine
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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